Grüfte, Glocken, großer Ausblick

Grüfte, Glocken, großer Ausblick
NO3
Do, 14.11.2024 | 14:00 - 15:00

Reisen (D 2024)

Morgenritual Punkt acht Uhr: Michel-Küster Tobias Jahn säubert das Kirchenschiff mit dem Industriesauger. Die Fülle der Touristen hinterlässt deutliche Spuren. Rund 1,5 Millionen Besucher wollen Hamburgs Wahrzeichen jedes Jahr besichtigen. Was sie nicht sehen, zeigt "die nordstory". Das sind z. B. die Fundamente mit den Kupferresten tief unter dem berühmten Turm, der verstaubte Kirchenboden mit dem geheimnisvollen Orgelfernwerk und die falschen Fenster oder der Erfrischungsraum für die Ehrenamtlichen gleich neben den schweren Grabplatten in der Krypta. Küster Tobias Jahn kennt die schönste Barockkirche Norddeutschlands und all ihre Seiten aus dem Effeff. Der ehemalige Kfz-Techniker verrichtet seinen Dienst am Michel seit 30 Jahren. Der Michel ist fast schon ein mittelständisches Unternehmen mit Konzert- und Veranstaltungshalle und Kirche. Eine Ikone des Nordens, von deren Turm morgens und abends der Türmer seinen Choral über die Stadt bläst. Josef Thöne erfüllt den mittlerweile 300 Jahre alten Dienst direkt über den Kirchenglocken seit Jahrzehnten und in Freizeitkleidung, nachdem ihm das traditionelle Türmergewand ganz unchristlich entwendet wurde. Ein gutes Stück, wenn nicht "das" Stück Hamburg überhaupt, ist der berühmte Sakralbau, umgeben von Hamburgensien unterschiedlichster Art. Das trubelige Portugiesenviertel zum Hafen hin, das traditionelle Restaurant Old Commercial Room, berühmt für Labskaus, in dem Anna Rauch gewissenhaft die Küche und das Regiment führt, dazu die Krameramtswohnungen und das Seemannsheim gleich gegenüber. Drei Häuser weiter bietet der Laden Frau Vogel neben ausgefallenen Souvenirs auch Hundeeis in allerlei Geschmacksrichtungen an: Melone-Feta ist der Renner, weiß sie. Mops August ist als Vorkoster eine verlässlich geschmackssichere Spürnase. Originalität und Eigensinn zeichnet die Gegend um den Michel und ihre Typen aus. Hauptpastor Alexander Röder liebt den Großneumarkt mit seinen Ständen, Feinschmecker besorgen sich hier häufig die Köstlichkeiten, die zum irdischen Leben gebraucht werden. Den Michel als Bauwerk zu erhalten und dem Zahn der Zeit zuvorzukommen ist eine der Hauptsorgen des Herren über zehn Angestellte und gut 400 ehrenamtliche Mitarbeiter. Dafür treibt der bestens vernetzte Geistliche sehr weltlich amtliche Beträge von Spendern, Gönnern und Michel-Liebhabern ein. Er weiß, was der Michel für Hamburg und die Hamburger bedeutet. Hier finden die wesentlichen Schritte im hanseatischen Leben und auch danach statt. Taufe, Hochzeit oder Trauerfeier, bis 1813 ließen sich wohlhabende Bürger sogar unter dem Michel begraben. Ein feines Zubrot für die Kirche in der Neustadt. "die nordstory" erzählt die Geschichte des Michel und begleitet das Bauwerk und seine Menschen durch das Jahr bis hin zur Aufstellung der Weihnachtstanne vor dem Altar. Eine geheime Seilwinde im Kirchenhimmel hilft, den Riesenbaum aufzurichten, denn erst dann kann für die Hamburger tatsächlich Weihnachten gefeiert werden.